SÉRGIO COSME ist Jetski-Rettungsfahrer in der größten Welle der Welt. Er zieht gestürzte Surfer aus dem Atlantik, ehe sie von der nächsten Wasserwand überrollt werden...
An einem kühlen Morgen Ende Dezember steht Sérgio Cosme am Fenster seines Schlafzimmers, nippt gedankenverloren an einer Tasse Espresso und blickt auf die Stelle im Ozean, an der er 2017 beinahe starb.
Cosmes Haus steht auf einem Felsen, der den ockerfarbenen Sandstrand von Nazaré überragt – einem Badestädtchen 120 Kilometer nördlich von Lissabon, vor dem sich jedes Jahr ein gewaltiges Naturphänomen abspielt.
Zwischen Oktober und März wachsen vor Nazaré die größten Wellen der Welt aus dem Atlantik: dunkelgraue Giganten, bis zu zwölf Stockwerke hoch und mehrere tausend Tonnen schwer.
Das ist Cosmes Arbeitsplatz.
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Den Piloten bleiben nur Sekunden, um eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen
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Die Wellen von Nazaré können Jetskis wie Spielzeuge durch die Luft wirbeln
Vormittag, im alten Hafen von Nazaré: „Der hier ist zu schwach“, sagt Cosme. Gerade beugt er sich über die Batterie eines giftgrünen Yamaha VX-Jetskis – 100 Stundenkilometer Top-Speed, 300 Kilogramm und 110 PS. Cosmes Garage sieht aus wie eine Mischung aus Secondhand-Surf-Shop und Junggesellenbude: feuchte Neoprenanzüge, halbleere Chipstüten, in der Ecke tropft der Duschkopf einer Nasszelle. Cosme sagt: „Draußen im Wasser brauchst du Jetskis mit 200 PS oder mehr.“
Die Wellen von Nazaré können Jetskis wie Spielzeuge durch die Luft wirbeln, ihre Sitze wegreißen oder die Plastikverkleidung zersplittern.
Sérgio Cosme,39, schmale Schultern, 60 Kilogramm im nassen Wetsuit, ist einer der erfahrensten Jetski-Piloten am größten Big-Wave-Spot der Welt. Sein Job ist es, auf jene Handvoll Spitzenathleten aufzupassen, die in den Wintermonaten die Brecher vor Nazaré reiten. Da Wellen dieser Höhe mit Muskelkraft allein nicht mehr angepaddelt werden können, lassen sich Big-Wave-Surfer von Jetski-Fahrern wie Cosme in die Wasserwände ziehen.
Der Taxidienst ist die erste Aufgabe der Piloten.
Die zweite ist wesentlich riskanter.
Der Zeitabstand zwischen zwei Wellen beträgt in Nazaré rund 10 bis 15 Sekunden. Stürzt ein Surfer, muss ihn der Jetski-Fahrer innerhalb dieses Fensters bei brachial schwerem Seegang in einem mehrere tausend Quadratmeter großen Gebiet suchen, mit dem Rettungsschlitten, der hinten am Jetski hängt, bergen und schnellstmöglich aus der Gefahrenzone bringen.
Kommt der Surfer nach dem Sturz nicht sofort wieder an die Oberfläche, schrumpft das Fenster für die Rettung noch weiter. Den Piloten bleiben daher nur Sekundenbruchteile, um eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen: Schaffe ich die Strecke bis zum Surfer, bevor die nächste Welle bricht? Oder muss ich umkehren und es später wieder versuchen? Das ist die Herausforderung in Cosmes Job: einen kühlen Kopf zu bewahren, damit andere überleben.
Seine Liebe für Geschwindigkeit entdeckt Cosme, noch ehe er seinen ersten Tag im Kindergarten verbringt. Cosme wächst in Lissabon und Santa Cruz an Portugals Atlantikküste auf. Mit drei Jahren bekommt er sein erstes Minimotorrad geschenkt, mit vierzehn steht er zum ersten Mal auf einem Surfbrett. Damals beginnt er auch, seine Kumpels mit dem Jetski in die Wellen zu ziehen.
Doch es dauert bis 2013, ehe sich Cosmes Leidenschaften, Ozean und Motorsport, vereinen – in einem Trainingskurs für Rettungspiloten. Cosme besteht und schafft sich in Nazaré einen Ruf als einer der führenden Piloten mit über einem Dutzend Rettungseinsätzen und einem Weltrekord.
2017 zieht er den Brasilianer Rodrigo Koxa vor Nazaré in die größte Welle, die je ein Mensch gesurft hat (24,38 Meter).
Der Tag, an dem Cosme beinahe stirbt, beginnt ebenfalls mit einem Erfolgserlebnis. Am 4. Jänner 2017 begleitet Cosme den brasilianischen Surfer Fabiano Tissot in eine dunkelgraue Sieben-Meter-Welle. Tissot gleitet die steile Wellenwand hinab, hinaus aus der Gefahrenzone. Dann packt er den Rettungsschlitten und gibt Cosme das Zeichen zur Abfahrt.
Doch dieses Mal stimmt das Timing nicht.
Cosme versucht, Ruhe zu bewahren, sich im Ozean treiben zu lassen. Entgegen allen Instinkten in solchen Situationen gelingt es ihm, unter Wasser die Augen zu öffnen. Er liest den Meeresboden, sucht einen Ausgang und schleppt sich mit Schmerzen in Brust und Kopf an den Strand.
Fragt man Cosme,wie man solche Situationen überlebt, sagt er: „Indem du ruhig bleibst.“ Als Rettungsschwimmer und Yogaschüler hat er jahrelang an dieser Fertigkeit gearbeitet. Es ist die Königsfrage: Wie generiert man Gelassenheit in Situationen, die exakt das Gegenteil von Gelassenheit durch Körper und Geist peitschen?
Cosme erklärt,am besten trainiere man in kleinen Schritten. Dafür baut er Übungen in seinen Alltag ein. „Gedanken, die keinen unmittelbaren Nutzen in einer ärgerlichen Situation haben, sollte man sofort vergessen“, sagt er. „Du stehst im Stau? Dein Chef pöbelt? Klar nervt das. Aber wer sich ärgert, verbraucht unnötig Energie. Also schieb den Ärger weg. Wenn es um Gelassenheit geht, setze ich lieber auf die große Kraft kleiner Szenarien, als auf den nächsten mentalen Notfall zu warten.“ Man könne also relativ leicht mit dem Training beginnen. Wenn man das nächste Mal im Stau steht. Oder wenn der Chef nervt.
An diesem Abend dreht Cosme auf dem Jetski noch einige lockere Runden und kehrt völlig durchnässt in den Hafen zurück. Vor uns steht ein patschnasser Mann, der nie so berühmt werden wird wie die Leute, für die er sein Leben riskiert. Der von dem Geld, das er verdient, die Miete für seine drei Garagen und das Haus zahlen kann und manchmal von einer befreundeten Restaurantbesitzerin auf ein Abendessen eingeladen wird, weil das Poster von Cosmes Weltrekordfahrt an der Wand ihres Lokals hängt.
Was Erfolg für ihn bedeutet? „Wenn am Abend alle meine Surfer gesund bei mir in der Garage sitzen“, sagt Cosme. Dann war es ein guter Tag.
Cosme in der Welle: instagram.com/sergiocosmico
Jede Sekunde zählt
Wie Jetski-Piloten Surfer nach einem Sturz retten.
Wellen-Intervall (ca.)
0s
5s
10s
15s
Welle 1
Welle 2
Wipe-out
Der Jetski zieht den Surfer in die Welle
Der Jetski-Fahrer lokalisiert den Surfer
Der Surfer hievt sich auf den Rettungsschlitten
+
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Die Strand-Rettungszone
Die Spotter-Zone
Die Start-Zone
Die Tow-in-Zone
PRAIA DA Nazaré
PRAIA DO NORTE
Gefangen in
der Riesenwelle
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Dafür hat Cosme knapp 15 Sekunden Zeit. Seine Aufgabe: gelassen bleiben, damit andere überleben.
KONSTANTIN REYER
ANDREAS ROTTENSCHLAGER
Die Tow-in-Zone
DIE STRAND-RETTUNGSZONE
Die Start-Zone
Die Spotter-Zone
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PRAIA DO NORTE
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Wellen-Intervall (ca.)
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15s
Der Jetski zieht den Surfer in die Welle
Wipe-out
Der Jetski-Fahrer lokalisiert den Surfer
Der Surfer hievt sich auf den Rettungsschlitten
Welle
Welle
Nazaré hautnah:
Das Video zur Story
Wenn eine Welle bricht, verwandelt sich der Surf-Spot zudem in ein gigantisches Schaumbecken. Da der sogenannte white wash aus Wasser und Luft besteht, generiert der Jetski-Propeller darin kaum Vortrieb. „Es ist wie Autofahren im Winter“, sagt Cosme. „Wenn du auf einer Eispiste zu schnell Gas gibst, drehen die Reifen durch.“ Der Unterschied ist, dass hinter Cosmes Auto eine Lawine heranrollt.
„Als ich mich umdrehte, um nach Fabiano zu sehen,
hatte ihn das Weißwasser der nächsten Welle bereits verschluckt“, erinnert sich Cosme. Er gibt Vollgas. Auf der Flucht gerät sein Jetski ins Schlingern, dreht zur Seite ab und verkantet. Cosme wird ins Meer katapultiert.
Die wütende Welle spült seinen gut 300 Kilo schweren Jetski direkt auf ihn zu. Cosme gerät in die Walze, die ihn herumwirbelt wie einen Tischtennisball in einer Waschmaschine. Sein Jetski trifft ihn am Kopf. Kurz vor dem Blackout zieht Cosme die Reißleine seiner Rettungsweste und taucht in einer Wolke aus Weißwasser wieder auf. Dann donnert die nächste Welle über ihn.
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Bilder
Text
An einem kühlen Morgen Ende Dezember steht Sérgio Cosme am Fenster seines Schlafzimmers, nippt gedankenverloren an einer Tasse Espresso und blickt auf die Stelle im Ozean, an der er 2017 beinahe starb.
Cosmes Haus steht auf einem Felsen, der den ockerfarbenen Sandstrand von Nazaré überragt – einem Badestädtchen 120 Kilometer nördlich von Lissabon, vor dem sich jedes Jahr ein gewaltiges Naturphänomen abspielt.
Zwischen Oktober und März wachsen vor Nazaré die größten Wellen der Welt aus dem Atlantik: dunkelgraue Giganten, bis zu zwölf Stockwerke hoch und mehrere tausend Tonnen schwer.
Das ist Cosmes Arbeitsplatz.
200 PS
für den Ernstfall
Wenn eine Welle bricht, verwandelt sich der Surf-Spot zudem in ein gigantisches Schaumbecken. Da der sogenannte white wash aus Wasser und Luft besteht, generiert der Jetski-Propeller darin kaum Vortrieb. „Es ist wie Autofahren im Winter“, sagt Cosme. „Wenn du auf einer Eispiste zu schnell Gas gibst, drehen die Reifen durch.“ Der Unterschied ist, dass hinter Cosmes Auto eine Lawine heranrollt.
Vormittag, im alten Hafen von Nazaré: „Der hier ist zu schwach“, sagt Cosme. Gerade beugt er sich über die Batterie eines giftgrünen Yamaha VX-Jetskis – 100 Stundenkilometer Top-Speed, 300 Kilogramm und 110 PS. Cosmes Garage sieht aus wie eine Mischung aus Secondhand-Surf-Shop und Junggesellenbude: feuchte Neoprenanzüge, halbleere Chipstüten, in der Ecke tropft der Duschkopf einer Nasszelle. Cosme sagt: „Draußen im Wasser brauchst du Jetskis mit 200 PS oder mehr.“
Die Wellen von Nazaré können Jetskis wie Spielzeuge durch die Luft wirbeln, ihre Sitze weg-reißen oder die Plastikverkleidung zersplittern.
Die Wellen von Nazaré können Jetskis wie Spielzeuge durch die Luft wirbeln
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Gefangen in
der Riesenwelle
Seine Liebe für Geschwindigkeit entdeckt Cosme, noch ehe er seinen ersten Tag im Kindergarten verbringt. Cosme wächst in Lissabon und Santa Cruz an Portugals Atlantikküste auf. Mit drei Jahren bekommt er sein erstes Minimotorrad geschenkt, mit vierzehn steht er zum ersten Mal auf einem Surfbrett. Damals beginnt er auch, seine Kumpels mit dem Jetski in die Wellen zu ziehen.
Doch es dauert bis 2013, ehe sich Cosmes Leidenschaften, Ozean und Motorsport, vereinen – in einem Trainingskurs für Rettungspiloten. Cosme besteht und schafft sich in Nazaré einen Ruf als einer der führenden Piloten mit über einem Dutzend Rettungseinsätzen und einem Weltrekord.
2017 zieht er den Brasilianer Rodrigo Koxa vor Nazaré in die größte Welle, die je ein Mensch gesurft hat (24,38 Meter).
Den Piloten bleiben nur Sekunden, um eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen
Der Tag, an dem Cosme beinahe
stirbt, beginnt ebenfalls mit einem Erfolgserlebnis. Am 4. Jänner 2017 begleitet Cosme den brasilianischen Surfer Fabiano Tissot in eine dunkelgraue Sieben-Meter-Welle. Tissot gleitet die steile Wellenwand hinab, hinaus aus der Gefahrenzone. Dann packt er den Rettungsschlitten und gibt Cosme das Zeichen zur Abfahrt.
Doch dieses Mal stimmt das Timing nicht.
„Als ich mich umdrehte, um nach Fabiano zu sehen, hatte ihn das Weißwasser der nächsten Welle bereits verschluckt“, erinnert sich Cosme. Er gibt Vollgas. Auf der Flucht gerät sein Jetski ins Schlingern, dreht zur Seite ab und verkantet. Cosme wird ins Meer katapultiert.
Die wütende Welle spült seinen gut 300 Kilo schweren Jetski direkt auf ihn zu. Cosme gerät in die Walze, die ihn herumwirbelt wie einen Tischtennisball in einer Waschmaschine. Sein Jetski trifft ihn am Kopf. Kurz vor dem Blackout zieht Cosme die Reißleine seiner Rettungsweste und taucht in einer Wolke aus Weißwasser wieder auf. Dann donnert die nächste Welle über ihn.
Felsenhöhe:
100 m
Tiefe des Unterwasser-Canyons:
5000 m
Länge des Unterwasser-Canyons:
211 km
Gewicht eines Wellen-Aufschlags:
5-10 Tonnen
Höchste je gesurfte Welle:
24.38 m
(Rodrigo Koxa)
SÉRGIO COSME ist Jetski-Rettungsfahrer in der größten Welle der Welt. Er zieht gestürzte Surfer aus dem Atlantik, ehe sie von der nächsten Wasserwand überrollt werden... dafür hat Cosme knapp 15 Sekunden Zeit.
Seine Aufgabe: gelassen bleiben, damit andere überleben.
...dafür hat Cosme knapp
15 Sekunden Zeit. Seine Aufgabe: gelassen bleiben, damit andere überleben.
KONSTANTIN REYER
Bilder
Text
ANDREAS ROTTENSCHLAGER
Cosme versucht, Ruhe zu bewahren, sich im Ozean treiben zu lassen. Entgegen allen Instinkten in solchen Situationen gelingt es ihm, unter Wasser die Augen zu öffnen. Er liest den Meeresboden, sucht einen Ausgang und schleppt sich mit Schmerzen in Brust und Kopf an den Strand.
Fragt man Cosme,wie man solche Situationen überlebt, sagt er: „Indem du ruhig bleibst.“ Als Rettungsschwimmer und Yogaschüler hat er jahrelang an dieser Fertigkeit gearbeitet. Es ist die Königsfrage: Wie generiert man Gelassenheit in Situationen, die exakt das Gegenteil von Gelassenheit durch Körper und Geist peitschen?
Cosme erklärt,am besten trainiere man in kleinen Schritten. Dafür baut er Übungen in seinen Alltag ein. „Gedanken, die keinen unmittelbaren Nutzen in einer ärgerlichen Situation haben, sollte man sofort vergessen“, sagt er. „Du stehst im Stau? Dein Chef pöbelt? Klar nervt das. Aber wer sich ärgert, verbraucht unnötig Energie. Also schieb den Ärger weg. Wenn es um Gelassenheit geht, setze ich lieber auf die große Kraft kleiner Szenarien, als auf den nächsten mentalen Notfall zu warten.“ Man könne also relativ leicht mit dem Training beginnen. Wenn man das nächste Mal im Stau steht. Oder wenn der Chef nervt.
An diesem Abend dreht Cosme auf dem Jetski noch einige lockere Runden und kehrt völlig durchnässt in den Hafen zurück. Vor uns steht ein patschnasser Mann, der nie so berühmt werden wird wie die Leute, für die er sein Leben riskiert. Der von dem Geld, das er verdient, die Miete für seine drei Garagen und das Haus zahlen kann und manchmal von einer befreundeten Restaurantbesitzerin auf ein Abendessen eingeladen wird, weil das Poster von Cosmes Weltrekordfahrt an der Wand ihres Lokals hängt.
Was Erfolg für ihn bedeutet? „Wenn am Abend alle meine Surfer gesund bei mir in der Garage sitzen“, sagt Cosme. Dann war es ein guter Tag.
Cosme in der Welle: instagram.com/sergiocosmico
Nazaré hautnah:
Das Video zur Story
Bodyguard
Wave
Big
Bodyguard
Wave
Big
200 PS für
den Ernstfall
Felsenhöhe:
100 m
Tiefe des Unterwasser-Canyons:
5000 m
Länge des Unterwasser-Canyons:
211 km
Gewicht eines Wellen
-Aufschlags:
5-10 Tonnen
Höchste je gesurfte Welle:
24.38 m
(Rodrigo Koxa)